Erinnerung und Identität

Ein Kurzbesuch auf der Fraueninsel war Anlaß, mich mit meinen Erinnerungen zu befassen, genauer damit, was Erinnerungen sind, wie sie gespeichert werden und wirken. Was generiert Erinnerungen, wie sehr weichen sie von der Realität ab? Anlaß war, daß mir im wahrsten Sinn des Wortes wie aus heiterem Himmel einfiel, wie ich als Kind bei einem Segeltörn am Chiemsee auf der Fraueninsel übernachtet habe. Es kam damals, vor ca. 43 Jahren, ein Sturm auf und wir legten rechtzeitig am Steg an. Ich wußte auch noch 3 Personen, die mit dabei waren und meine mich an das Schiff – ein Holzsegelboot  –  zu erinnern. Die Unruhe, der starke Wind damals,  waren auch jetzt sofort präsent. Aber was war der Auslöser für diese plötzliche Erinnerung: der Anblick eines Segelschiffes, das gerade an genau diesem Steg anlegte? Der starke Wind damals wie jetzt wieder, die eventuelle Gewitterwarnung –  oder die gesammte Atmosphäre in der Luft?
Es heißt, was eine Erfahrung traumatisch macht ist die unmittelbare emotionale Befindlichkeit und Reaktion darauf – und nicht das Ereignis selbst. Damals empfand ich es nicht als bedrohlich – nur als aufregend. Was erklärt, warum ich in all den Jahren immer noch und immer wieder gerne – auch bei starken Winden – auf die Fraueninsel fahre. Ich spaziere so gerne über dieses Kleinod im Chiemsee, fotografiere,
sehe mir die Gärten an, genieße eine Renkensemmel, hatte so manch schöne Begegnungen und intensive Gespräche dort.  Auch habe ich schon so manchen Sturm dort erlebt – doch nichts davon hatte in den letzten 43 Jahren eine Erinnerung an jenen Segeltörn hervorgerufen! Wieso also jetzt? – darauf habe ich noch keine Antwort!
Die Rückfrage bei meiner Mutter ergab, daß es tatsächlich diesen Segeltörn gegeben hat und ich als Kind dabei war, wir auf der Insel übernachtet haben – aber nicht wegen des Sturms, der kam zufällig, sondern weil eh schon ein Zimmer reserviert war.

Beim Umherstreifen auf der Insel habe ich – ca 10 Minuten nach meiner eigenen Kindheitserinnerung – dieses Lager entdeckt, offenbar von Kindern gebaut. An was sich diese Kinder wohl in über 40 Jahren erinnern werden? Mich hat es jedenfalls sofort an all unsere Kinderlager am Holzösterersee erinnert!

„Unsere Erinnerung ist das Fundament unserer eigenen Identität“ habe ich mir notiert, als im März auf 3sat die Doku „Das getäuschte Gedächtnis“ lief. Wie fragil und beeinflußbar diese Erinnerung ist und welche Verantwortung ich als Therapeutin habe, wurde mir durch diese Doku sehr deutlich. Aber auch, wie subjektiv diese meine eigenen Erinnerungen sind – und wie fatal sie werden können, sowie andere Menschen unmittelbar involviert sind. Jedenfalls habe ich mir jetzt das Buch „Das trügerische Gedächtnis – Wie unser Gehirn Erinnerungen fälscht“ der Psychologin und Wissenschaftlerin  Julia Shaw zum Thema bestellt. Auch wenn meine Segeltörn- Erinnerung nicht trügerisch war, wohl aber auf ihre Weise mit identitätsstiftend. Nicht zufällig bin ich vor über zehn Jahren am Chiemsee gelandet und wohne seitdem hier.